Künftig könnten Hausärzte ihren Patienten ein Vitaldatenmonitoring verschreiben. Das wäre notwendig, um die Daten anschließend mit Hilfe von künstlicher Intelligenz auszuwerten. So lautet das Ziel des Vorhabens „DataHealth Interregio“, das kürzlich als Vollantrag des Forschungsschwerpunktes „Digitale Modellregion Gesundheit Dreiländereck“ (DMGD) der Lebenswissenschaftlichen Fakultät (LWF) der Universität Siegen beim Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Förderung eingereicht wurde, unterstützt durch ein breites Konsortium, zu dem auch die AOKen NordWest und Rheinland-Pfalz/Saarland gehören. Eine Besonderheit dieses Projektvorhabens ist es, dieses Modellvorhaben direkt für die Regelversorgung vorzubereiten und mit einer realen Testphase in der Region „Dreiländereck“ zu beginnen. Im Rahmen der Sommerkonferenz #DataHealthRevisited wurde das wissenschaftliche Konzept des Innovationsfondsantrages vorgestellt und diskutiert.
„Mit einem Durchschnittsalter der Hausärzte von über 56 Jahren, die in vorderster Front der ländlichen Gesundheitsversorgung stehen, wird Südwestfalen in den nächsten Jahren der Herausforderung begegnen, bei rückläufigem Nachwuchs eine ambulante Versorgung auf hohem Niveau sicherzustellen.“ Mit diesen Worten stieg der Geschäftsführende Leiter der DMGD, Dr. Olaf Gaus, inhaltlich in die Sommerkonferenz „#DataHealth Revisited – Neue Möglichkeiten und Herausforderungen einer digital unterstützten Gesundheitsversorgung“ ein und ergänzte sofort, dass es in den angrenzenden Kreisen des Dreiländerecks, Rheinland-Pfalz, Hessen und Nordrhein-Westfalen, ähnlich aussieht. Einem Versorgungsmangel könne durch digitale Unterstützungsmöglichkeiten begegnet werden. Der Siegener Universitätsrektor, Prof. Dr. Holger Burckhart, lobte das wissenschaftliche Modellvorhaben und die Mitwirkung aus dem gesamten Gesundheitswesen, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Gaus erläuterte, dass in dem vorgestellten Projekt die Selbstvermessung der eigenen Vitaldaten im Mittelpunkt steht. Der wissenschaftliche DMGD-Mitarbeiter Alexander Keil zeigte auf seinen Präsentationsfolien beispielhaft, wie ein vom Arzt verordnetes Vitaldatenmonitoring praktisch durchgeführt werden könnte. Zu sehen war ein LifeTouch-Patch, welches unter die Brust geklebt wird und ein EKG oder die Atemfrequenz aufzeichnet. Das Messgerät ist relativ klein und schränkt die Bewegungsfreiheit des Patienten nicht ein. Die Daten werden über eine integrierte Bluetooth-Schnittstelle an ein Tablet oder Smartphone gesendet und von dort aus als mobile Daten an einen medizinisch-zertifizierten Netzwerk-Server übermittelt.
„Die reinen Messungen von EKG, Sauerstoffsättigung, Blutdruck, Puls und Gewicht stellen kein Problem dar und sind keine neuen Erfindungen“, erläuterte Prof. Dr. med. Veit Braun und ergänzt: „Die Innovation liegt hier klar in der Kombination von mehreren Messgeräten, welche bei paralleler Anwendung genauere Informationen über Krankheitsbilder liefern werden und in dem sicheren Datentransport“. Braun fungiert in einer Doppelrolle, zum einen als Prodekan Healthcare der LWF und Chefarzt der Neurochirurgie am Siegener Diakonieklinikum Jung-Stilling. In seinem Impulsvortrag sprach er von der Datenauswertung und -vorsortierung. Er nannte dabei ein Beispiel aus dem Online-Shopping. „Nach einem Wareneinkauf bei Amazon werden mir im Anschluss auch ähnliche Produkte empfohlen, die zu mir passen. Die Trefferquote ist hier – zugegeben – sehr hoch.“ Der Wissenschaftler Dr. Christian Weber vom Lehrstuhl für Wissensbasierte Systeme und Wissensmanagement erläuterte im Anschluss die Funktion der künstlichen Intelligenz, die dafür sorgt, dass die aufgezeichneten Vitaldaten den Arzt bereits in aufbereiteter Form vorliegen. „Je mehr Daten verarbeitet werden, desto genauere Ergebnisse erwarten wir“, so Weber. Das Projektkonsortium verspricht sich davon frühzeitige Diagnose- und Präventionsmaßnahmen, die weiterhin therapeutisch vom jeweiligen Arzt verordnet und begleitet werden.
Prof. Dr. Maria Maleshkova, die die Professur Medizinische Informatik mit dem Schwerpunkt mobile Gesundheitsinformationssysteme an der LWF leitet, ist davon überzeugt, dass die Gesundheitsversorgung durch Lösungsmöglichkeiten aus dem Bereich der künstlichen Intelligenz künftig unterstützt werden wird: „Diesen Prozess können wir nicht stoppen. Wir sollten jetzt damit anfangen, auch wenn uns große Umstellungen herausfordern werden“. Am Ende werden Patienten, Ärzte und weitere Akteure, wie zum Beispiel der gesamte Pflegebereich, davon profitieren. „Ich bin optimistisch. Die Aufklärung ist hier ein wichtiger Parameter. Früher buchte man Reisen in einem Reisebüro und heute übernimmt man das selbst über digitale Tools von zu Hause aus“, nannte Maleshkova ein einfaches Beispiel. Podiumsgast Arndt Kirchhoff, Vorsitzender des Beirats der KIRCHHOFF Gruppe und Präsident von unternehmer nrw, ermutigte das Projekt-Konsortium: „In der Industrie sind wir schon viele Schritte weiter. Alleine mein Unternehmen hat Maschinen an 51 Standorten und die hängen schon seit vielen Jahren am Netz. Wir checken ständig den Zustand, werden informiert, wenn Teile ausgetauscht werden müssen und können jederzeit den Fertigungszustand abfragen. Die Chancen stehen gut, diese Möglichkeiten auch im Gesundheitswesen umsetzen zu können“. Auch Geschäftsführerin Nadine Paschmann von der Brancheninitiative Gesundheitswirtschaft Südwestfalen e. V. meint, dass auf dem Gesundheitsmarkt vieles ausbaubar sei. Die Initiative unterstützt die regionale Gesundheitsbranche durch Veranstaltungen und Vernetzungen und ist selbst auch Kooperationspartner des Innovationsfondsvorhabens.
Der niedergelassene Hausarzt und Mitglied des Hausärztlichen Beirats des Projektes, Hartmut Rohlfing, wird mit seiner Gemeinschaftspraxis an dem Projekt teilnehmen. Er sieht bislang keinen erheblichen Mehraufwand für die Ärzte und erhofft sich Entlastung in der Patientenbehandlung. Etwas vorsichtig begutachtete er die eigenständige Datenerhebung durch technisch weniger affine Patienten. Deshalb solle hier zusätzlich beim Pflegepersonal und bei Pflegeangehörigen angesetzt werden. Auch dieser Punkt wurde bei der Antragsstellung im Projektvorhaben „DataHealth Interregio“ berücksichtigt. Prof. Dr. med. Nabeel Farhan, forschender Neurochirurg an der DMGD, referierte dazu in seinem Impulsvortrag. Er sprach über Aufgaben, die Ärzte an ihr nicht-ärztliches Personal delegieren können. Welche das konkret sind, gilt es in der Projektphase herauszufinden. Entsprechende Schulungskonzepte und deren Inhalte sollen anhand von Befragungen unter verschiedenen Beteiligten und anschließenden Analysen erstellt werden. „Solange sich medizinisch alles im Normbereich befindet, habe ich bislang keine Bedenken, dass die Kommunikation mit den Patienten über medizinische Fachangestellte stattfindet. Das kann auch per Videosprechstunde geschehen“, erklärte Farhan. Zur verbesserten intersektoralen Kommunikation wird im Modell auch der E-Arzt-Brief in Verbindung mit der digitalen Patientenakte eingesetzt.
„Es wird keine neue Technik in die Praxen gebracht!“, versicherte der approbierte Arzt und Informatiker Dr. Rainer Feinen von dem IT-Dienstleister Materna Information & Communications SE. Die Systeme existieren bereits, sie müssten nur genutzt werden. Feinen ergänzt, dass die Ärzte keinen zusätzlichen Aufwand haben werden und alle von den Vorteilen profitieren werden. Über den Cloudservice können Informationen einfach ausgetauscht werden und über die digitale Patientenakte verwaltet werden. Aus dem virtuellen Publikum kamen zu diesem Zeitpunkt vermehrt Fragen über den Datenschutz und die Datensicherheit auf. Prof. Dr. Dr. Carl-Friedrich Gethmann, LWF-Professur für Wissenschafts- und Medizinethik, ging sehr immun damit um: „Wir müssen in das Risiko reingehen, wir rennen sonst in eine Versorgungslücke. In diesem Fall nutzen wir die Digitalisierung nicht aus Spaß an der Freude“. Das ehemalige Mitglied des Deutschen Ethikrates erklärte, dass der ausschlaggebende normative Gesichtspunkt nicht der des Eigentums an Daten sei, sondern der Schutz der Privatheit. Dabei ließ er das Stichwort Finanzamt fallen und betonte anschließend, dass jeder Bürger einen Versorgungsanspruch habe, dem letztendlich die Mediziner gerecht werden müssen.
Die Verantwortungsübernahme für eine lückenlose Gesundheitsversorgung bewegt sich häufig in einer Grauzone. Eigentlich ist dieses Thema Aufgabe der Kreise. Stefan Hundt, Projektbegleiter der DMGD, schilderte, dass dieses Thema aber etwa vor zehn Jahren den Kommunen in den Schoß gelegt wurde. Er plädierte, unter der Annahme, dass innovativ aufgestellte Kommunen das Thema längst angenommen haben, für die Notwendigkeit gemeinsamer Entwicklungen durch Ärzteschaft, Patientenschaft und weiterer Gesundheitsakteure unter Begleitung der Kommune und Einbindung der Wissenschaft. Prof. Dr. Christoph Strünck, Dekan der LWF, ermutigte dazu, sich mit den wandelnden Versorgungsstrukturen auseinanderzusetzen, denn sie würden mehr Lebensqualität bieten. Er ging zudem vor dem Hintergrund der alternden Gesellschaft noch einmal auf die Pflege ein und erläuterte, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen Mittel und Wege schaffe, um die Pflegebedürftigkeit zu verzögern.
Das KI-gestützte Vorhaben „DataHealth Interregio“ birgt viele Veränderungen in den bisherigen Versorgungsstrukturen. Daher muss das Vorhaben tiefgehend evaluiert werden. Diese Aufgabe übernimmt Prof. Dr. Bodo Vogt, der an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg die BWL-Professur mit dem Schwerpunkt empirische Wirtschaftsforschung leitet und Professor für Gesundheitsökonomie am dortigen Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung ist. Für DHI sind drei Evaluationsphasen vorgesehen.
Moderiert wurde die Veranstaltung von den Konsortialpartnern der Universität Witten/Herdecke, Prof. Dr. Jan Ehlers und seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Theresa Sophie Busse. Ehlers ist Vizepräsident für Lehre und Lernen an seiner Universität und Lehrstuhlinhaber für Didaktik und Bildungsforschung im Gesundheitswesen. Beide unterstützen den Projektbereich „Dialogisches Feedback“, in dem auch Delegationsmöglichkeiten und Schulungen behandelt werden. Ob das Modellvorhaben in der Region Dreiländereck umgesetzt wird, hängt von einer Finanzierungszusage ab. Eine Entscheidung wird gegen Ende des Jahres erwartet.